1 Vorwort

So oft im Leben - und besonders wenn die Dinge nicht so gelaufen sind, wie ich meinte, dass sie laufen sollten - habe ich mich gefragt, was ist hier wirklich los, worum geht es denn hier eigentlich, wo geht es für mich weiter und was kann ich überhaupt selbst beeinflussen? Aber meistens habe ich weder genauer nachgefragt, noch habe ich an der richtigen Quelle nach Antworten gesucht. Fast immer habe ich die Antworten und Lösungen nur in den äußeren Umständen und Fakten gesucht und mich selbst nur als Beurteiler eingebracht. Oder ich habe die Einschätzung von anderen für kompetenter gehalten als meine eigene Wahrnehmung. Dass ich als Beobachter allen Geschehens auch Teil aller Lösungen bin, war mir nicht klar. Und immer wenn ich mit meiner Logik nicht weiter gekommen bin, hat mich die Ablenkung gelockt oder ich habe mich mit Antworten begnügt, die ich bereits kannte. Ich hatte die Vorstellung, Kontemplation sei nur ein ernstes, kompliziertes und theologisches Nachdenken über den Sinn des Lebens. Doch ich habe eine Methode für mich entdeckt, die unglaublich einfach ist und keine Antworten oder Ergebnisse vorgibt.

Das Prinzip der Kontemplation ist uralt. Doch es scheint mir hoch aktuell zu sein, weil wir im Informationszeitalter von so vielen Daten und kollektiven Meinungen überflutet werden, dass wir dringend den Bezug zur inneren Wahrheit benötigen, um uns in dieser sich so rasant ändernden Welt orientieren zu können. Heutzutage ist es selbstverständlich geworden, jede Frage mal eben zu googeln, aber im gleichen Maße, so scheint mir, brauchen wir den Zugang zur eigenen inneren Quelle. Das direkte intuitive Befragen dieser Quelle beim Kontemplieren kann dabei erstaunlich hilfreich sein. Dieses „verrückte“ Phänomen, mit sich selbst einen inneren Dialog zu führen, sich selbst Fragen zu stellen und diese dann auch noch selbst zu beantworten, geschieht ja fast ständig mehr oder weniger bewusst und vor allem mit mehr oder weniger Erfolg. In Form der Kontemplation kann dieser Dialog sogar bewusstseinserweiternd sein.

Auf der Suche nach Antworten habe ich irgendwann festgestellt, dass Antworten, die ich von außen bekomme, im besten Fall etwas von der Wahrheit in meinem Inneren anklingen lassen können. Mir wurde klar, dass Erkennen viel mehr bedeutet als die Kenntnis über die richtigen Informationen und dass es ein gefühltes Wissen des Herzens gibt, das für meine Realität mindestens so wichtig ist wie mein rationales Verständnis der äußeren Fakten.

Kontemplation vereint die Weisheit des Herzens mit der des Verstandes.*4 Durch das Kontemplieren habe ich einen greifbaren Zugang zu meiner Intuition gefunden. Sie ist für mich der Schlüssel zur Stimme meines Herzens und macht mein rationales Verständnis erst lebendig. Die für mich relevanten Fragen zu entdecken, hat mich sofort euphorisiert, und ich habe Antworten in der Kontemplation bekommen, die mich selbst überrascht haben. Fast so, als kämen sie nicht von mir und dennoch waren sie vertraut und absolut stimmig. Ich selbst bin eher scheu gegenüber den Worten und Konzepten anderer, fühle mich schnell von offensiven Ratschlägen bedrängt und kann auch kluge und populäre Weisheiten nicht einfach für mich übernehmen. Deshalb war die Entdeckung der Kontemplation für mich genau das Richtige.

Irgendwann in einer Kontemplation tauchte der Satz auf: „Schreib ein Buch über Kontemplation!“ Erstaunt habe ich weiter gefragt, wie das gehen soll, und mit jeder Frage kam eine weiterführende Antwort. So entstand Schritt für Schritt dieses Buch. Ich habe viele Hintergründe recherchiert, aber die Themen hauptsächlich kontemplativ erforscht.

3 Was bedeutet Kontemplation?

In der Kontemplation wird eine sanfte, aufmerksame Betrachtung von bestimmten Inhalten benutzt, um dem Kern einer Sache auf den Grund zu gehen und um so ein tieferes Verständnis des Ganzen zu erlangen.

 

Da Kontemplation eine Methode zur Bewusstwerdung ist und der Begriff Bewusstsein bis heute nicht eindeutig definiert werden konnte, kann auch Kontemplation im Kern nicht genau definiert werden. Sich bewusst werden zu wollen, was Bewusstsein ist, ist so, als wolle das Auge sich selbst beim Schauen zusehen. Also benutzen wir Umschreibungen, um eine Ahnung zu bekommen, was Kontemplation bedeutet.

 

Das lateinische Wort „contemplare“ bedeutet betrachten/ beobachten. Es beinhaltet die Worte „con“(was zusammen bedeutet) und das Wort „templum“(heiliger Bezirk/ Beobachtungsraum), das ursprünglich einen aus der gewöhnlichen Topographie herausgetrennten Bereich bezeichnete, der zur Betrachtung göttlicher Zeichen genutzt wurde. Inzwischen bedeutet „templum“ Tempel / heiliges Gebäude. Römische Auguren machten ihre Weissagungen, indem sie diesen abgesteckten heiligen Kreis in Zusammenhang mit einem heiligen Bereich des Himmels betrachteten, der auch „templum“ genannt wurde. Zeichen wie z. B. der Vogelflug zwischen diesen Bereichen wurden als göttliche Hinweise gedeutet. Aber „templum“ heißt auch Beobachtungsraum, und verweist damit auf die Bedeutung die Kontemplation auch heute hat. Nämlich, sich einen besonderen Raum der Beobachtung zu schaffen. Das Wort Kontemplation geht also auf die gemeinsame Betrachtung zweier „heiliger“ gegensätzlicher Bereiche zurück.

 

Heute können wir die himmlischen und irdischen Bereiche auf die Innenwelt und die Außenwelt beziehen, die scheinbar räumlich getrennt voneinander, aber nur in Bezug zueinander, funktionieren. Die Widersprüche und Konflikte, die sich durch unser Interagieren in der Außenwelt ergeben, werden beim Kontemplieren in einem inneren Tempel bzw. Beobachtungsraum befragt.

 

Die Themen und Fragen, die sich aus der Betrachtung der äußeren und inneren Welt ergeben, bleiben beim rein analytischen Nachdenken etwas Abstraktes. Erst durch die Verbindung von Objekt und Subjekt entstehen neue Horizonte der Wahrnehmung. Man kann z. B. versuchen, rein analytisch alle Aspekte der Liebe objektiv zu ergründen, aber ohne die subjektive Erfahrung der Liebe bleibt jede noch so logische Erklärung abstrakt und leblos. Wir können uns nicht selbst allein durch Nachdenken aus dem Sumpf der Gedanken herausziehen. Alles Beobachtete existiert nicht unabhängig vom Beobachter.

 

Probleme im Außen werden lösbar, wenn der Bezug zu den eigenen inneren Vorgängen erkannt wird. Das eigene Zutun wird deutlich und damit eröffnen sich auch neue Umgangsweisen. Bestimmte Themen, die im Leben schwer erscheinen, können sich plötzlich durch die kontemplative Betrachtung relativieren und in einem ganz anderen Licht erscheinen.

 

Bei inneren Themen, die in der Kontemplation befragt werden, eröffnet sich die Möglichkeit, diese auch mit mehr emotionaler Distanz zu betrachten. Diese Distanz hilft, automatisches Reflexverhalten zu erkennen und die Identifikation mit den emotionalen Inhalten zu lösen.

 

Zum Kontemplieren schaffen wir uns einen inneren und äußeren Raum der Achtsamkeit, einen inneren und äußeren Tempel bzw. Beobachtungsraum.

Jemand, der in stiller Meditationshaltung über den Sinn des Lebens nachdenkt, praktiziert nicht automatisch eine kontemplative Betrachtung. Auch das Nachsinnen über geistige oder „heilige“ Themen ist nicht automatisch eine Kontemplation. Weder die Beschreibung der geistigen Praxis noch die Beschreibung der betrachteten Themen kann genau definieren, was Kontemplation ist. Es ist eher das Erkennen selbst, der Moment des Bewusstwerdens, was den Kern der Kontemplation ausmacht. Kontemplation ist mehr als Form und Inhalt erklären können. Eine innere Sehnsucht erkennen zu wollen, was wirklich ist, löst eine Suche aus. Bereit zu sein, die Fragen unvoreingenommen  zu ergründen, macht empfänglich für Erkenntnisse, die mehr sind als Informationen.

Kontemplieren ist ein Pflücken des Augenblicks.

Eine lebendige Antwort kann nur aus der Gegenwart, aus dem, was gerade ist, kommen. Theoretisches, abstraktes Analysieren bleibt meist nur ein Jonglieren mit Daten. Das „Aha-Erlebnis“ des Erkennens kommt nicht allein aus dem geistigen Verstehen, sondern bedarf auch der Ebene des gefühlten Wissens, der Wahrheit des Herzens.

 

In der Kontemplation geschieht ein Fokussieren – Öffnen – Empfangen – Erkennen und dadurch ein Entspannen.

 

Durch die Auswahl einer Frage geschieht ein Fokussieren auf ein Thema oder auf einen Punkt. Dann kommt eine Phase des Öffnens. Indem man unvoreingenommen lauscht, wird man dafür empfänglich, neue Zusammenhänge, Antworten und Bewusstseinsebenen zu erkennen. Allein das Erlebnis des Verstehens kann eine Erleichterung, Freude und Entspannung auslösen, ohne dass man an den Themen selbst etwas verändert hat.

 

Kontemplation löst direkt keine Probleme der Gegebenheiten, denn die Erweiterung des Sichtfeldes verändert die Umstände und Tatsachen nicht, sondern zeigt zunächst nur Ursachen und neue Möglichkeiten auf. Kontemplation hat keine therapeutischen Ansprüche und ist auch nicht als psychische Arbeit zu verstehen. In dem Moment des Erkennens löst sich eine Spannung auf. Der Verstand kommt im Augenblick des Verstehens für einen Moment zur Ruhe. Es entsteht ein innerer Frieden, der auch im Zustand der Meditation auftaucht, wenn die Geschäftigkeit des Verstandes unterbrochen wird.

 

Kontemplation unterscheidet sich von der Konzentration und der Meditation. Die Konzentration bündelt das Bewusstsein auf einen Punkt und blendet alle anderen Nebenschauplätze aus. Die Meditation löst das Bewusstsein von den Objekten der gewöhnlichen Betrachtung. In der Kontemplation wird das Bewusstsein auf ganz neue oder auch auf verborgene Zusammenhänge gelenkt, die dem betrachteten Thema innewohnen. Der Fokus der Aufmerksamkeit ist in der Kontemplation weder darum bemüht, alle geistigen Verhaftungen zu lösen, noch wird versucht, alle Nebenaspekte auszublenden.

 

Anfangs bewegen einen meist konkrete persönliche Probleme. Bei ihrer Erforschung stößt man dann auf Fragen, die sich auf übergeordnete Prinzipien beziehen, welche die Menschen seit jeher beschäftigt haben, z. B. „Was ist ein glückliches Leben?“ Diese Art der Fragestellungen hat auch die Verwandtschaft von Kontemplation und Philosophie geschaffen. Bei der Beschäftigung mit solch grundlegenden Fragen dringt man allerdings unweigerlich in Bereiche vor, die sich dem logischem Verständnis von Ursache und Wirkung mehr oder weniger entziehen und die Konfrontation mit sogenannten transzendentalen Themen bewirken können. Wenn man an genau diesen Punkten weiter offen und erwartungsfrei beobachtet, geschieht dasselbe wie in einem tiefen Meditationszustand. Das Beobachten löst sich von den beobachteten Objekten und eine bewusstseinserweiternde oder transzendentale Erfahrung kann plötzlich geschehen. Eine Erfahrung, die in den meisten Kulturen als religiöse oder mystische Erfahrung beschrieben wird. Dieser Prozess lässt sich allerdings nicht vorsätzlich durch philosophische oder religiöse Prinzipien erzwingen. Es ist immer ein individueller Prozess.

 

Beispiel: Zuerst mag sich jemand fragen: „Wie schaffe ich es, mehr Zeit zu haben?“ oder „Was zwingt mich, mehr Zeit mit Dingen zu verbringen, die ich gar nicht tun will?“ Daraus entstehen für gewöhnlich die Fragen: „Wie kann ich Zeit sparen?“ oder „Wie entkomme ich den Zwängen?“ Dann kommt man vielleicht zu der Frage: „Wofür genau will ich eigentlich mehr Zeit haben?“ Und dann: „Wie funktioniert mein Zeitempfinden?“ Irgendwann stolpert man über die Frage: „Was ist das Phänomen Zeit?“ Mit den Antworten der ersten Fragen schafft man es im besten Fall sein Leben besser zu organisieren, die nächsten Antworten verhelfen zu größerer Selbsterkenntnis und die letzten Antworten führen zur Meditation oder bei manch einem zur Philosophie.

 

Die Meditation ist in den meisten Traditionen eine zustandsorientierte Methode. Kontemplation ist dagegen eher zielorientiert. Beim Kontemplieren geht es mehr um die beobachteten Themen als um einen angestrebten Zustand. Das Erkennen geschieht beim Meditieren sozusagen als Nebeneffekt der Bewusstwerdung und kann sogar gegenstandslos sein. Kontemplation ist zunächst eine zielorientierte Methode, da der Geist auf bestimmte Themen fokussiert wird, sie zu durchdringen versucht und als Nebeneffekt des Erkennens entsteht ein Zustand des Einsseins und der Entspannung. Die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Ergänzungen von Kontemplation und Meditation werden in einem späteren Kapitel genauer beschrieben.

 

Der Ausdruck „ein kontemplatives Leben führen“ kommt aus der Zeit, in der Menschen dem „weltlichen Leben“ entsagt haben, um im ständigen Dialog mit Gott eine höhere Wahrheit und Erfüllung zu finden. Wenn der Ausdruck „kontemplativ“ synonym mit dem Begriff „meditativ“ benutzt wird, will er nicht auf die angewendete Methode verweisen, sondern darauf, dass etwas mit innerer Reflektion betrachtet wird, wie z. B. kontemplative/ meditative Texte oder Kunst.

Kontemplation ist ein Prozess, der über das rein logische Verstehen von Kausalzusammenhängen hinausgeht.

 

Das Durchdringen von Umständen und Zusammenhängen hat zwar zunächst  praktische Vorteile, aber der menschliche Verstand wird allein durch seine Funktionsweise immer wieder an die Grenzen des Verstehbaren stoßen (siehe dazu auch das Kapitel „Das Denkorgan“). Die Erfahrung der Bewusstwerdung ist letztlich bedeutender als die Inhalte, über die kontempliert wird.

 

Von außen betrachtet, ist der Akt des Kontemplierens etwas Absurdes, denn wer befragt eigentlich wen? Um dieser Widersprüchlichkeit zu entgehen, unterteilen wir die eigene Identität. Wir identifizieren uns mit dem fragenden Teil unseres Selbst und empfangen die Antwort aus entfernteren Ebenen, aus einem Bereich, den wir heutzutage Unbewusstes nennen. Manche Antworten erscheinen so anmaßend oder inkompatibel mit unserer erlernten Persönlichkeit, dass die innere Stimme sogar als etwas völlig Fremdes abgespalten wird. Es ist leichter, provokante Antworten zuzulassen, wenn man die Quelle entsprechend außerhalb der eigenen Persönlichkeit sieht, was ein natürlicher Schutz vor Schizophrenie und sozialer Abgrenzung ist. Diese Trennung wird meist deutlich vollzogen, wenn in Visionen fremde Geister, Wesenheiten, Verstorbene oder Götter zu einem sprechen.

Die Grenze zum Aberglaube oder Pathologischen kann dabei fließend sein.

 

So wie uns die Träume im Schlaf helfen, die Erlebnisse des Tages unbewusst zu verarbeiten, so helfen uns auch Vorstellungen von metaphysischen Gesetzen und religiöse Konzepte, um mit den nicht erklärbaren Erlebnissen umgehen zu können. Die Formen sind in jeder Kultur anders, aber das psychische Prinzip dahinter ist überall gleich.

 

Es ist also durchaus gesund, eine gewisse Spaltung in der eigenen Entwicklung zu durchlaufen, denn so können wir uns erst des Einsseins gewahr werden. So wie ein Spiegelbild uns in zwei trennt und dennoch erst zeigt, wie wir aussehen. Im Erkennen stellt unsere eigene Reflektion keinen Widerspruch mehr da.

 

Der Moment des Erkennens ist vergleichbar mit dem Moment, in dem, in einem dunklen Raum das Licht eingeschaltet wird. Die Suche nach der Tür erübrigt sich, einfach weil man sieht, wo sie ist. Die Entscheidung, durch die Tür zu gehen, und die Konsequenzen, die das mit sich bringen mag, werden einem jedoch durch das Erkennen nicht genommen. So erhellen sich in der Kontemplation nur die Räume, deren Erkenntnisse einen nicht überfordern. Für Themen, die man noch nicht bereit ist zu betrachten, wird auch kein Licht angehen. Erst wenn die Sehnsucht nach dem „Erkennen wollen“ größer ist, als die Schmerzen, die es evtl. kosten mag, den Illusionen ins Auge zu schauen, erst dann ist ein Moment für eine Offenbarung gereift.

 

Kontemplation greift die Funken der Inspiration auf um sie in eine, für den Verstand greifbare, Form zu gießen. Sie hilft den Druck aus Situationen zu nehmen, sodass eine leichtere, distanziertere Betrachtung, von dem was ist, möglich wird.

 

Kontemplation bedeutet in sich selbst den Raum zu schaffen, in dem das Erkennen einer höheren Wahrheit möglich wird.